Aufgewachsen bin ich in einer Kleinstadt, zum Studium in das wenige Kilometer entfernte München gezogen. Vor einiger Zeit ging ich für ein paar Monate zurück in die Kleinstadt, machte ein Praktikum bei einer Tageszeitung. Jeden Tag konnte ich hier mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen meiner Heimatstadt sprechen, von Kunst über Landwirtschaft bis hin zu Politik. Sie alle erzählten mir von ihrer eigenen Welt: Ein Künstler erklärte mir, warum er mehrere Eichenstämme in einem Komposthaufen vergraben und anschließend wieder ausgegraben hatte. Zwei Jugendliche aus der linken Szene erklärten mir, wieso sie auf eine Wahlveranstaltung der AfD gegangen waren und diese aufmerksam verfolgt hatten. Ein Historiker erklärte mir, was ihn dazu antrieb, die Verbrechen der Nationalsozialisten an homosexuellen KZ-Häftlingen aufzuarbeiten – und auf welche Hürden und Grenzen er dabei stieß.
Selten wird jemand außerhalb der Filterblase gefragt: Was denkst du? Und zwar ehrlich gefragt. Und ihm dann auch noch unvoreingenommen bis zum Ende zugehört. Ich denke da auch an mich selbst, mich kann es wütend machen, wenn jemand meiner Sichtweise ganz fern ist, kann dann manchmal schlichtweg auf Durchzug schalten, nicht mehr zuhören. In der Rolle der Journalistin bin ich gezwungen, offen zu bleiben, genau zuzuhören. Nachzufragen, aber auf objektiver Ebene. Genau das eröffnete mir einen neuen Horizont, eine neue Sichtweise auf meine Heimatstadt genauso wie auf das Weltgeschehen – und vor allem ein verändertes Verständnis für Szenarien, die sich außerhalb meiner Erfahrungen und Vorstellungskraft abspielen. Darüber, wie sich Lebensformen, Gedankenwelten und auch politische Meinungen entwickeln.

Bringen wir Filterblasen häufiger zum Platzen! Es scheint, als wollten wir so gerne einer Identität entsprechen, einem Milieu angehören, einem Label entsprechen. Umweltschützer, Heimatschützer, Künstler, Realist, Kosmopolit oder Traditionalist. Doch Identität findet sich nicht durch Einordnung, durch das Abhaken kleiner Kästchen. Identität, egal ob für den Einzelnen oder für die gesamte Gesellschaft, findet sich durch das Stellen von Fragen, immer wieder neu.
Wenn wir Fragen stellen, merken wir schnell, dass einfache Antworten von Populisten diese nicht beantworten können. Nimmt man beispielsweise die – immer wieder diskutierte, in diesem Fall aus Gründen der Anschaulichkeit stark vereinfachte – Frage: „Soll Deutschland Flüchtlinge aufnehmen?“ Die Antwort rechter Parteien oder Gruppierungen – im Stil des Populismus immer wieder gerne vereinfacht – dürfte in etwa so ausfallen: Nein, da sie unsere Jobs wegnehmen und nicht nach unserer Vorstellung von Kultur leben. Die Antwort müsste sich aber eigentlich mit anderen, weiteren Fragen befassen: Welche Verantwortung trägt Deutschland dafür, dass es diese Flüchtlinge gibt? Welche Mittel haben wir, ihnen zu helfen? Welche Regeln muss es geben, damit die Aufnahme funktionieren kann? Wollen wir eine offene oder protektionistische Kultur? Das sind nur einige Beispiele. Und der Beweis, dass Anschaulichkeit und Vereinfachung in diesem Kontext eine andere Rolle spielen müssen.
Wer jetzt verzweifelt aufstöhnt – noch mehr Fragen? – hat das Grundlegende nicht verstanden. In einer komplexen Welt wie unserer kann es nicht einfach sein, Antworten auf solch große und bedeutende moralische Fragen zu finden. Es ist in Ordnung, manchmal einfach nicht zu wissen, welche Entscheidung die bessere ist, welche Partei ich wählen soll, wie ich zur GroKo stehe oder welche Kandidaten ich für die Nachfolge des CDU-Vorsitzes favorisiert hätte. Das Entscheidende ist jedoch, Unentschlossenheit nicht in Resignation münden zu lassen. Besser weitere Fragen stellen, Bedenken haben und ihnen nachgehen, als voreilige Antworten zu geben und sich an diesen festzuhalten. Diese Welt ist unsicher, volatil, das war sie immer, das wird sie bleiben.
Wir können sie nur verbessern, indem wir uns Veränderungen stellen, unseren Horizont hinterfragen und erweitern – und die Filterblasen mit Wucht aufeinander knallen lassen. So funktioniert Demokratie.
